Zur Geschichte des Liederkranzes in den letzten 175 Jahren.
„Singe, wem Gesang gegeben ... Das ist Freude, das ist Leben." (Ludwig Uhland)
Singen die Deutschen wie die Weltmeister? Die Zahlen, die der Badische Sängerbund bekannt gibt, können diesen Eindruck entstehen lassen. Im Badischen Sängerbund sind 1993 73.000 aktive Sängerinnen und Sänger in rund 1.500 Gesangvereinen mit mehr als 2.160 Chören organisiert. Einschließlich der fördernden Mitglieder zählt der Bund 254.000 Mitglieder. Für 1995 ist wieder ein Chorwettbewerb für ganz Baden geplant.
Nicht unähnlich wird es in den anderen Bundesländern sein. Trotz der Moderne und ihrer Zersplitterung zu Individuen, trotz der Mechanisierung des Musiklebens durch Rundfunk, Schallplatte, Tonband, Fernsehen und CD, die jeder an und aufdreht, sind hier noch andere, tiefere, unbewusste Kräfte am Werk.
Warum wird soviel gesungen?
Spötter tun die Chormusik ab als Geselligkeit und Vereinsmeierei. Sie meinen, das kulturelle Erbe umfasse zwar die Symphonien Beethovens und weisen dem Staat die Aufgabe zu, dieses Erbe zu alimentieren, das Chorlied dürfe dem Vergessen anheim fallen.
Zu den Aspekten des Chorgliedsingens gehören an seinen Anfängen vornehmlich der politische, dann der kulturelle, der erzieherische und der gesellige. Der politische Aspekt des Anfangs wird nicht wenige überraschen. Doch: Wer singt das berühmte Chorlied „Die Gedanken sind frei" und verschließt sich dem Inhalt? Der Sänger lernt aus diesem Lied eines unbekannten Dichters aus Süddeutschland zur Zeit der französischen Revolution, dass Kerker „ein vergeblich Werk" ist und Gedanken „Schranken und Mauern entzweireißen. Und unsere Demokratie braucht Menschen, denen nach Hitlerdiktatur und real existierendem Sozialismus Freiheit etwas bedeutet.
Das Chorliedsingen hat einen kulturellen Aspekt, ermöglicht kulturelle Identität. Ohne Lied wären unsere Kultur und die
Kulturen anderer Völker ein Stück ärmer. Lieder der Völker zeigen unterschiedliche Sprachrhythmen und Melodiegestaltung. „Alle Vögel sind schon da" singen die Deutschen. Im albanischen oder
russischen Volkslied zwitschert es anders, aber nicht minder entzückend! Wer diese Bereicherung erfahren hat, zündet keine Asylantenheime an, kennt keinen Rassismus, lebt nicht in dem Wahn, am
deutschen Wesen müsse die Welt genesen. Womit wir beim erzieherischen und geselligen Aspekt wären. „Musik und Kunst sind die Sprache der Seele". Das gemeinsame Singen fördert soziale Fähigkeiten,
lehrt und schärft die sensitive Wahrnehmung, erzieht zu Feinfühligkeit und Ausdrucksfähigkeit; es schützt vor Manipulation mit Hilfe der Musik, warnt vor unkontrolliertem Konsumverhalten und
gesellschaftsfeindlichen Einstellungen.
Lieder aus verschiedenen Epochen erschließen verschiedene Naturzugänge; die moderne Zivilisation mit ihren Straßenlaternen und Neonreklamen bedarf vielleicht des Liedes, um „den Mond und die Sterne" zu entdecken. Geburt, Liebeslust, Liebesfreud und Liebesleid, Hochzeit, Ehe, Abschied und Heimweh, Tod, Jahreszeiten, kurzum: das ganze menschliche Leben gibt Anlass zum Singen und „Stoff" zu Liedern; Freude, Glück, Betroffenheit, Schmerz und Trauer finden ihren sprachlichen, melodiösen und rhythmischen Ausdruck im Lied. Wenn auch Schlager, Beat und Pop bekannter sind als das traditionelle Lied, ist das Lied nicht tot.
Es wird aus einem tiefen menschlichen Bedürfnis gesungen. Das Lied und das gemeinsame Singen sind Ausdruck der sozialen Zufriedenheit.
„Die Gedanken sind frei"
Die Gründung der Männergesangvereine an die Frauen hat man damals nicht gedacht -erfolgte nicht aus kleinbürgerlicher Vereinsmeierei, sondern war eine späte politische Antwort der Bürger auf das Scheitern des deutschen Einheitsgedankens. Man suchte über die Ländergrenzen hinweg einen Zusammenschluss durch das deutsche Lied. Im regionalen und überregionalen Bereich wurden Freundschaftsbande geschlossen und gepflegt, ferner trafen sich die Sänger auf Landessängerfesten. In den politischen Wirren der Revolutionsjahre 1848 wurde diesen Chören von Amts wegen große Schwierigkeiten bereitet, sie mussten in den Untergrund gehen und ihre Sitzungen und Proben heimlich in Kellerräumen abhalten. Ein Sänger galt schon als politisch verdächtige Person. Den Machthabern muss das Lied „Die Gedanken sind frei" in den Ohren gegellt haben.
Die Bildung von Männergesangvereinen ging von Berlin aus. In Berlin gründete Karl Friedrich Zelter die „Liedertafel".
Wie in Heidelberg, in Eppingen oder in der südlichen Ecke Deutschlands, in Grenzach, entstand in Sinsheim in den 40 er Jahren des vorigen Jahrhunderts ein anfangs lockerer Kreis von Sängern. Diese gründeten im Jahre 1844 den „Liederkranz". Ob sich die Gründungsmitglieder - der Kameralamtspraktikant Hofstätter, Ratschreiber Hafner, der Lehrer A. Sauer, der Verwalter Banz und Lehrer Dinges -vorstellten, dass 2004 der Chor das 160jährige Jubiläum feiern werde?
Der Sinsheimer Chor umfasste bei seiner Gründung 69 aktive Mitglieder. Die Männer aus Neckarbischofsheim, Grombach, Adersbach, Steinsfurt, Hoffenheim, Dühren, Zuzenhausen, Waibstadt, Elsenz und Hilsbach nahmen große Mühen auf sich, wenn sie zur wöchentlichen Probe erscheinen wollten.
Dass geprobt wurde, ist daran abzulesen, dass der Chor schon am 15. Juli 1845 das erste öffentliche Konzert gab und zuvor am 11. und 12. Mai 1845 auf dem 2. Badischen Sängerfest in Mannheim mitwirkte.
Das jähe Aus
Die Revolution von 1848 brachte das Aus für den Chor; er wurde verboten.
Es wurde heimlich geprobt, es gab aber keine Auftritte. Der Chor war lebendig; aus den Unterlagen lässt sich ersehen, was der Chor allein an Musikalien in dieser Zeit erworben hat. Der
Chor wurde erst 1859 wiederzugelassen, die Zulassung wurde an Bedingungen geknüpft und die Vereinsstatuten vom Großherzoglichen Ministerium des Innern geprüft und genehmigt. Das Bezirksamt der
Stadt wurde angewiesen, den Chor und sein Leben sorgfältig zu überwachen.
„Nun fangt’s an ein guts Liedlein zu singen“ (H.L. Haßler)
Stadtschreiber, Kaufleute, Kanzleigehilfen, Amtsaktuare, Bierbrauer, Pharmazeut, Ökonome, Blechnermeister, Seifensieder, Arzt, Müller, Hauptleute, Tierarzt, Wirte trafen sich wieder wöchentlich zur Probe, denn jede unentschuldigt versäumte Singstunde wurde mit einer Strafe belegt. Der Chor zählte 1859 39 Mitglieder.
Dem Chronisten fällt die Aufgabe zu, eine vergangene Zeit neu erstehen zu lassen: Die Geschichte vom Liederkranz soll doch gelesen werden, mit Interesse gelesen werden. Vor dem Chronisten liegt eine Fülle von Daten und Fakten, in sauberer Handschrift in den Protokollbüchern festgehalten; aus ihnen soll er Leben erwecken, das mitunter nicht aus den Bahnen der Normalität herausragt. Wo keine Höhepunkte sind, kann er keine zaubern. Er meint indes, dass schon die gediegene, kontinuierliche Chorarbeit eine besondere Leistung ist, auch wenn sie im Rückblick als Normalität erscheint. Alle festlichen und kulturellen Veranstaltungen in der Amtsstadt Sinsheim wurden durch die Vorträge des Liederkranzes bereichert. Und umgekehrt: Der Liederkranz hat mit seinen Konzerten die Geschichte, das kulturelle und gesellige Leben der Kreisstadt gestaltet. Der Chronist muss notgedrungen auswählen. Für die ersten 125 Jahre hält er sich an die herausragenden Persönlichkeiten und an die verschiedenen Aspekte des Chorgesangs; für das letzte Vierteljahrhundert traut er sich die Wertung nach Persönlichkeiten nicht zu, hier wird er der einfache Chronist bleiben.
Verdiente Dirigenten und herausragende Vorsitzende
Gerechtfertigt ist die Erwähnung von Philipp Schweinfurt, der mit seinem unerschöpflichen Idealismus zuerst als Vorsitzender (ab 1864), dann ab 1871 bis zu seinem Tod 1900 als Dirigent den Chor prägte und formte und sich große Verdienste erwarb. Er sorgte, dass der Chor an den Sängerfesten der näheren und weiteren Umgebung teilnahm, dass Konzerte veranstaltet wurden, dass der Chor an den Badischen Sängerbundfesten teilnahm und dabei Preise und Auszeichnungen erwarb, dass der Chor Konzerterlöse für wohltätige Zwecke spendete, dass alljährlich an Christi Himmelfahrt auf der Burghälde das große Volksfest zusammen mit dem Turnverein ausgerichtet wurde, dass die gesellige Unterhaltung gepflegt wurde.
einst Probelokal des Liederkranzes
Ein besonderer Höhepunkt war das Stiftungsfest am 6. Juli 1884 mit 36 geladenen Vereinen.
Ph. Schweinfurts vorbildliche Chorarbeit hat die Aufmerksamkeit des badischen Liederkomponisten Carl Isenmann auf den Liederkranz von Sinsheim gelenkt. Isenmann widmete dem Liederkranz Kompositionen, die dieser auf den Badischen Bundessängerfesten vortrug und damit Preise errang: so mit dem Lied „Silbernes Bächlein im tiefen Tal" auf dem Badischen Bundessängerfest 1881. Beim 5. Badischen Sängerfest 1890 in Karlsruhe wurde der Liederkranz für das Lied „Seliger Tod" von Carl Isenmann mit einer Silbermedaille ausgezeichnet. Beim 6. Badischen Sängerbundfest 1895 errang der Liederkranz den zweiten Preis für das Lied „Am Brünnlein" von Karl Laue. Vor Isenmann hat der Schweizer Komponist J. Sprängli zwei Sammlungen von Männergesängen dem Liederkranz zum Geschenk gemacht.
Die Titel und Themen der Chorlieder sind ein Kind ihrer Zeit, und für die Nachgeborenen kein Anlass des Spottes.
Chormeister und Musiklehrer Albert Baust führte von 1926 bis 1930 den Chor einem neuen Höhepunkt entgegen. Unter Bausts umsichtiger Leitung wechselten in bunter Reihe Konzerte - NordischerAbend, Passionskonzert, Schubertabend, Die erste Walpurgisnacht - mit Kammermusik und Solistenabenden. Schon vor 1910 begann die Zusammenarbeit mit dem Sinsheimer Musikverein, 1910 verschmolzen beide Vereine. Seit 1925 gehörten dem Verein auch Frauen an.
Auf A. Baust folgte Adam Reinmuth, der 1931 Teile der „Schöpfung" von Haydn aufführte, 1932 einen Volksliederabend gestaltete und im gleichen Jahr eine Auswahl recht schwieriger Chöre aus fünf Jahrhunderten vortrug, eine BrahmsGedächtnisfeier ausrichtete, an Wertungssingen teilnahm und mit silbernen Medaillen heimkehrte.
Ungewollt ist bei der Beschreibung des Wirkens der großen Dirigenten auch die künstlerischen Produktionen und das Chorleben in den vielen Jahrzehnten umrissen worden. Weniges soll noch hervorgehoben werden.
Im Juni 1909 wurde das goldene Vereinsjubiläum gefeiert. Das Fest ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Das Fest hätte schon 1884 gefeiert werden sollen. Um das festzustellen, hätte man die ehemals beschlagnahmten Protokollbücher einsehen müssen. Und das Fest ging als „Wasserfest" in die Vereinsgeschichte ein: Der Himmel hatte an diesem Tag alle Schleusen geöffnet, und 770 Sänger aus 24 Vereinen, Festdamen und Gäste standen im Regen, sangen im Regen, erbarmungslos durchnäßt.
Der Zweite Weltkrieg brachte die Vereinstätigkeit zum Erlöschen. Zugleich wurde das Probenlokal einer anderen Verwendung zugeführt. Noten, Liederbücher, Musikwerke, fast alle Erinnerungsstücke wurden verheizt, auch die Elfenbeinbeläge der Tasten beider Flügel.
In den Jahren 1944 bis 1948 erlebte der Verein den Tiefpunkt seines Vereinslebens.
Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg
An der Wiedergeburt des Liederkranzes standen zwei Männer: der Stadtrechner Theo Maier und der Musiklehrer Wilmar Zipf. Sobald die Entnazifizierungsbestimmungen der amerikanischen Militärregierung es zuließen, rief Theo Maier 1948 die Sänger wieder zusammen und schlug ihnen vor, den am Realgymnasium lehrenden Musiklehrer Wilmar Zipf zum Chorleiter zu berufen. 20 Jahre sollte W. Zipf die Leitung des Liederkranzes innehaben, unermüdlich und selbstlos für den Verein wirken und ihn formen und prägen und zu musikalischen Höhepunkten führen. Seine Liederabende und Konzerte waren immer ein Höhepunkt im kulturellen Leben der Stadt Sinsheim. Der begeisterte Sänger, Freund, Förderer und Vorstand Theo Maier starb schon 1951. Er blieb im Gedächtnis der Sänger und Sängerinnen, weil er für die Geselligkeit sorgte und zusammen mit dem Dirigenten die Fundamente für den neuen Stil der Chorarbeit legte.
Beide Männer stellten gleich zu Beginn die Chorarbeit auf eine breitere Grundlage: Dem Männer- und gemischten Chor wurde ein Frauenchor angegliedert. Beide Männerwaren sich in den neuen Zielen einig: Sie wollten die Abkehr von dem sentimentalen Chorstil im Geiste einer falsch verstandenen Romantik, wie er vor und nach dem Ersten Weltkrieg vorherrschte. Es sollten streng künstlerische Maßstäbe gelten. Im Mittelpunkt der Chorarbeit sollten die Volkslieder aller Jahrhunderte stehen und die Pflege des Liedgutes alter und neuer Meister.
Der wieder gegründete Chor und W. Zipf debütierten am 6. November 1948 mit Werken von Schubert, Brahms, von Mozart die Kantate „Dir Seele des Weltalls" und das Flötenkonzert in D-Dur. Weitere Chorkonzerte schlossen sich an und fanden steigende Beachtung. Gelobt wurde die feine Schmiegsamkeit, Tongebung und das Einfühlungsvermögen des Chores. Zum Repertoire der weiteren Aufführungen gehörten die Kantate „Zum Lobe der Musik" von Josef Haas, das Konzert für Flöte, Harfe und Orchester von Mozart, zeitgenössische Chormusik wie das „Oberrheinische Triptychon" von Franz Philipp und ein Liederzyklus von W. Schlageter, die beiden letztgenannten Werke wurden auch vom Süddeutschen Rundfunk aufgenommen; anlässlich des 125. Todestages von Fr. Schubert gestaltete der Verein einen Schubertabend. Es ging weiter mit einem Mozartabend zum 200. Geburtstag von W. A. Mozart; im Rahmen eines bunten Liederabends wurde dem Vorsitzenden des Liederkranzes R. Stoll die vom Bundespräsidenten verliehene Zelterplakette überreicht.
Wie in seinen Anfangsjahren im vorigen Jahrhundert machte der Chor durch seine Leistung auf sich aufmerksam. 1950 gab der Bundeschormeister dem Sinsheimer Liederkranz den Auftrag, in der „Stunde des Chorgesangs" im Süddeutschen Rundfunk eine Sendung mit dem Titel „Romantische Chormusik" zu gestalten. Dieser Auftrag wurde 1952 wiederholt. Die Kritik zu beiden Sendungen kannte nur Lob; gelobt wurden die Programmauswahl, die Wiedergabe der gemischten und Frauenchöre und die vorbildlichen Tenöre des Männerchores. Der Bundeschormeister schrieb an den Chorleiter W. Zipf: „Sie dürfen stolz sein auf diesen Chor".
1955 gestaltete der Chor das 8. Sonderkonzert im Rahmen des Badischen Bundesliederfestes in Karlsruhe in Anwesenheit der Komponisten Fr. Philipp, W. Schlageter und O. Jochum; das Konzert wurde vom Süddeutschen Rundfunk ausgestrahlt.
Werfen wir einen Blick auf die weiteren künstlerischen Produktionen. 1958 einen Abend mit „Geistlicher Musik", 1959 ein Frühjahrskonzert mit dem Tenor Georg Jelden und dem Pianisten Günther Krieger unter dem Motto „Wenn der Abend sanft die Flügel breitet". Dann wurden Lieder von Hugo Distler aus dem Mörike Buch in das Repertoire aufgenommen. Als ältester kultureller Verein gestaltete der Liederkranz 1963 bei der Feier des 1200jährigen Bestehens von Sinsheim den Festakt und führte das Chorwerk „Heimat" von W. Rein und das „Halleluja" von Georg Händel auf. Zur Weihnachtszeit gestaltete der Chor wieder eine Sendung in der „Stunde des Chorgesangs" und führte 1964 von L. E. Wittmer den „Bodenseezyklus" auf.
Wer sich ein bisschen auskennt, weiß welche Arbeit
hinter diesen Leistungen steckt, welcher Mühe sich der Chor unterzog und wie viel Elan und Begeisterung der einzelne aufbringen musste.
Auch das Vereinsleben kam nicht zu kurz. 1954 wurde als 110. Jubiläum das 100jährige Bestehen gefeiert, das in den Tagen des Krieges ausfallen musste. Gesellige Vereinsfeiern fanden im Ablauf des
Jahres statt; seit 1959 richtete der Verein für alle aktiven Sängerinnen und Sänger im Januareine gemeinsame „Geburtstagsfeier" aus, die von Seniorsänger Ferdinand Weißinger ins Leben gerufen
wurde.
Das letzte Halbejahrhundert
Bevor wir uns dem letzten halbenahrhundert des Liederkranzes zuwenden, sei innegehalten zu einer kurzen Reflexion. Jeder Zeitabschnitt trägt seine besonderen Kennzeichen.
Das Wirken von Chorleiter Zipf umfasst Nachkriegsära und Wiederaufbau. Jede Gegenwart „flimmert", alle spüren ihre Bewegung und wissen nicht, wohin sie führt. Neues ist angesagt: Die 68 er Revolution. Sie prägt Denken und Fühlen der Menschen in allen Lebensbereichen. Von einer zweiten Aufklärung wird gesprochen. Autoritäten fallen, Werte und Normen werden umgestoßen. Individualismus, Materialismus, Freizeit, Konsum, Selbstverwirklichung, die Ästhetik des Rock and Roll, des Beat treten ihren Siegeszug an. Von den Massenmedien kräftig gefördert. Die Massenmedien wachsen zu einem ungeahnten Machtfaktor und werden zu einer die Mentalität prägenden Kraft. Musik wird eine Ware eine Ware, an der einige viel Geld verdienen -und der Hörer zum Käufereiner Ware. In den letzten Jahren rollt auf uns eine neue Kommunikationstechnologie zu .
Konnte der Liederkranz aus den neuen Erscheinungen und Kräften Kapital schlagen? Konnte aus ihnen überhaupt profitiert werden? Der Chronist glaubt nicht. Wir werden es sehen.
Eine kleine Statistik und Grundlinien
In diesem halbenjahrhundert wurden ca. 1800 Chorproben abgehalten. Aus diesen vielen Chorproben der 33 Frauen und 53 Männer (1969) -1994 sind es insgesamt 61 aktive Mitglieder - erwuchsen: 20 abendfüllende Konzerte, drei Rundfunksendungen und viele Wertungs- und Freundschaftssingen. Welch ideeller Einsatz steht hinter diesen kulturellen Leistungen! Es gelang der Chorgemeinschaft, eine große Hörerschar anzuziehen; an dem Applaus konnte sie ablesen, dass ihr Hörerkreis mit den Leistungen sehr zufrieden war.
Zahllos waren die geselligen Veranstaltungen für die aktiven und passiven Mitglieder: Wanderungen, Ausflüge, Fastnachtsfeiern, Geburtstage; seit 1975 richtet die Chorgemeinschaft für die Große Kreisstadt den „Sinsemer Herbst" aus, sie reihte sich 1985 ein in die Völkerverständigung mit den Bürgern der Partnerstadt Longué.
Aktivitäten im einzelnen
Noch im vorigen Jahrhundert richtete der Liederkranz zusammen mit dem Turnverein alljährlich an Christi Himmelfahrt auf der Burghälde ein großes Volksfest aus. An diese Tradition mag sich der Verein erinnert haben, als er 1975 für das erste Oktoberwochenende den „Sinsemer Herbst" ins Leben rief. Wie viel Organisation, wie viel Feierabend- und Wochenendeinsatz der Mitglieder steht hinter der Vorbereitung und Durchführung! Dafür erfreut sich das Fest bei der Bevölkerung eines großen Anklanges.
Seit den 80 er Jahren engagiert sich der Liederkranz für die Völkerverständigung. 1985 führte er über 50 Sängerinnen und Sänger in die Partnerstadt Longué. Auf der Hin- und Rückreise machte der Chor seine kulturellen Besichtigungen, wichtig war den Sängerinnen und Sängern der Kontakt mit den französischen Bürgern von Longué; sie waren überwältigt von der Gastfreundschaft. Der Höhepunkt der Reise war das Konzert in der Kathedrale Notre Dame de la Legione d' Honneur. Unter Leitung des Dirigenten J. Paßura sang die Chorgemeinschaft bekannte deutsche und europäische Volkslieder und Lieder der Romantik. Dazwischen bot der Chor ARPEGES aus Longué Chorsätze. Höhepunkt des Höhepunktes war, als sich die beiden Chöre vereinten und unter jeweils einem Dirigenten Lieder zum Lobe der Musik sangen.
Nach der Beschreibung des Engagement im gesellschaftlichen Leben wendet sich der Chronist einigen Schwerpunkten des musikalischen Chorlebens zu; er berichtet von Konzerten, und -angesteckt vom Geist der 68 er Jahre -achtet er auf neue Wege, die der Chor einschlägt, weg vom ernsten, traditionellen Chormusikprogramm hin zu zeitgenössischen Komponisten und Trends des allgemeinen Musiklebens.
Im Jahre 1969, es war das 125 jährige Jubiläumsjahr, sang der Chor erstmals unter dem Dirigenten Hans Rectanus mit einem Programm von Gastoldi bis Orff. Anerkannt wird allgemein der vorbildlich geschulte Klangkörper, die außerordentliche Stilsicherheit des Chores, der Werken von Orff, Brahms, von Orlando di Lasso und Paul Zoll gerecht wird.
Bei dem Konzert am 6. 11. 1971 im Musiksaal des neu erbauten Gymnasiums zeichneten sich neben dem Gesamtchor mitwirkende Heidelberger Künstler und auffallend viele anwesende zeitgenössische Komponisten aus. Der Chronist fühlt sich an das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts erinnert, als der Dirigent des Liederkranzes, Philipp Schweinfurth, zeitgenössische Chorkomponisten nach Sinsheim einlud und deren Werke aufführte, manchmal uraufführte. Vom anwesenden Helmut Sadler wurde der Zyklus „Herbsttage" nach Texten aus dem „siebenbürgischen Bauernjahr" von Michael Wolf-Windau uraufgeführt. Der madrigalartig aufgebaute Zyklus verbindet Folklore-Elemente mit Elementen metaphysischen Ernstes zu melodisch und rhythmisch schwierigen Passagen, die vom Chor höchstes Können verlangten. Unter Anwesenheit des Komponisten Hermann Schäfer wurden vier Lieder aus dem „Heiteren Herbarium" von Karl Heinrich Waggerl vorgetragen. Die Busch-Vertonung „Man ist ja von Natur kein Engel" erheiterte das Publikum. Den Chor betreute der Dirigent Hans Rectanus. Auch die Freunde des traditionellen Chorsatzes kamen nicht zu kurz.
In das Jahr 1973 fallen zwei Ereignisse. Am 10.7.1973 anlässlich des Prädikatssingens in Kirrlach errang der Liederkranz die Tagesbestleistung. Der bedeutendste Chorkomponist der Nachkriegszeit, Quirin Rische, zeichnete den Chor und seinen Dirigenten Jörg Paßura mit der Höchstbewertung » hervorragend « aus. Das zweite Ereignis war das Konzert am 27.11.1973. Das Konzert stand im Dienste der Chormusik der Romantik und moderner Komponisten, Bela Bartok, Quirin Rische und Kurt Hessenberg. Kurt Hessenberg bot mit seiner lustigen Chorgeschichte vom Geschrei zwischen Huhn und Karpfen um gelegte Eier dem Frauenchor, dem gemischten Chor und dem Männerchor Gelegenheit, alle Register des Chorgesangs zu ziehen und seinen gekonnten Umgang mit Silben, Konsonanten und Vokalen zu zeigen.
Am 25. 4.1975 fand wieder ein großes Konzert
statt. Wieder richtet der Chronist sein Augenmerk auf die Komponisten unserer Tage: G. Wolters, Heinz Lau, Armin Knab. Der Rezensent der Rhein-Neckar-Zeitung ist voll des Lobes über die lockere,
leichte, duftige Darbietung voll natürlichen Empfindens und anmutiger Schönheit und über den schwebenden Klang. Gemäß der Maxime des Dirigenten J. Paßura, das Bewährte nicht zu vernachlässigen und
dennoch moderne Wege zu gehen, nahm er den Komponisten der Neuen Welt, Stephan Forster, in das Chorrepertoire auf. Stephan Forster öffnete sich den Negro-Spirituals und schuf Lieder, die zum Volksgut
der amerikanischen Nation geworden sind. Diesem amerikanischen Komponisten war ein Potpourri gewidmet. Der gemischte Chor brillierte in den fremden Rhythmen. Auf Stephan Forster folgte ein zweites
Novum: Jörg Paßura nahm Bearbeitungen für gemischten Chor von Werken des Walzerkönigs Johann Strauß Sohn und Fred Raymond in das Programm auf. Beim argentinischen Tango schmolz das Publikum. Der
Rezesent der RNZ merkte an: „Jeder der vielen Konzertbesucher durfte ein Herz voll Fröhlichkeit mit nach Hause nehmen".
Dem Dirigenten war ein Schritt in eine neue Richtung gelungen.
Als einen „großen bezaubernden Abend" bezeichnet der Rezensent der RNZ das 140 jährige Jubiläumskonzert 1984. Der Chor erhält wegen seiner vorzüglichen Musikalität und Diktion viel Lob. Neben den
traditionellen Chorsätzen alter und zeitgenössischer Komponisten kommen sehr viele deutsche und europäische Volkslieder zum Vortrag, die entstehende europäische Union zeichnet sich ab. Auch ein gut
gesungener Volksliedsatz hat etwas Gehaltvolles, wenn auch das Volkstümliche nicht geleugnet wird.
In schwieriger Zeit
Die Konzerte werden nach dem 140jährigen Jubiläumskonzert seltener. Der Chor konzertiert 1987 im Rahmen der Sinsheimer Kulturtage, 1993 sang der Chor auf dem „Robert-Stolz-Gala-Abend" der Volksbank, die im Ablauf ihrer 125Jahr-Feier auch ein musikalisches Fest bot.
Die oben genannten Kräfte, die seit Jahren am Werk sind, machen dem Staat, den Parteien, den Kirchen, den Gewerkschaften zu schaffen. Alle genannten Institutionen leiden an der Verdrossenheit der Bürger. Sollte es da einem Gesangverein in einer Kleinstadt anders ergehen? Schon auf der Hauptversammlung 1985 stellte der Dirigent J. Paßura zur Lage des Chores fest: Die Leistung falle, dem Chor fehle der Nachwuchs. Die RNZ überschreibt ihren Bericht: „Die Chorgemeinschaft bangt um ihre Zukunft". Auf der Hauptversammlung 1990 klagte der Dirigent zusätzlich, die Singbereitschaft lasse nach; das beklagen auch andere Chorleiter.
Mit den genannten Schwierigkeiten paart sich die Knappheit der Gelder, die dem Verein für seine Bedürfnisse zur Verfügung stehen. An dieser Stelle muss Ferdinand Weißinger erwähnt werden. Über viele Jahre hinweg war F. Weißinger aktiver Sänger, zuletzt Senior des Männerchores. F. Weißinger hat bei seinem Tod 1974 - wie ein Sangesbruder wurde er mit Liedern zu Grabe getragen - auch an die materielle Seite des Chores gedacht und ein Legat gestiftet, dessen sich der Chor besonders in Zeiten materieller Knappheit dankbar erinnert.
Die Jahre nach dem 160-jährigen Jubiläum bis heute
Unter seinem Chorleiter Jörg Paßura (1972-2005) konnte der gemischte Chor sämtliche Register des Chorgesangs ziehen. Gemäß der Maxime des Dirigenten J. Paßura, das Bewährte nicht zu vernachlässigen und dennoch moderne Wege zu gehen, nahm der Chor Komponisten der Neuen Welt in das Chorrepertoire auf.
Dem Dirigenten war somit ein Schritt in eine neue Richtung gelungen, die er bis 2005 verfolgte. 2005 bis 2017 übernahm Sabine Ortelt den Chor und schon ein Jahr später reagierte der Liederkranz, auf Anregung der Dirigentin, mit der Gründung eines zusätzlichen Chores „Power of Voice“, um auch jüngeren Sängerinnen und Sänger eine Heimat zu geben. Damit wurde die Bandbreite um Pop-Songs, Jazz-Songs, „etwas andere Klassik“ und Musicals erweitert. Zahlreiche Konzerte unter anderem unter dem Titel „Film ab“ oder „Swinging Twenties“ legten hierfür klangvoll Zeugnis ab.
Seit 2017 singen ältere und jüngere Sänger, unter unserer neuen Dirigentin Agnese Buchauer, zusammen Stücke von traditioneller Chormusik bis zu aktuellen Liedern und erleben auch nach 175 Jahren jede Woche, wieviel Freude das Singen in der Gemeinschaft bedeutet.
In der Zeit seines 175-jährigen Bestehens hat der Liederkranz unzählige Konzerte und Liederabende veranstaltet. Er hat damit vielen Menschen eine Freude bereitet, und sie mit Chorliedern in die Kunst eingeführt.
175 Jahre besteht der Liederkranz. Eine vermeintlich lange Zeit und doch nur ein kleiner Ausschnitt aus der großen Geschichte. Betrachtet man hingegen das Werden, Streben und Blühen des Jubilars in 175 Jahren, so ist darin ein hohes Maß an Opfer und Idealismus, Treue zur Geschichte und Kultur und zum gemeinsamen Singen über viele Generationen hinweg zu erkennen.
Neue Ideen sind gerade in der Planung und es soll noch dieses Jahr mit der Umsetzung begonnen werden. Dazu sucht der Chor noch weitere Sängerinnen und vor allem Sänger, um sich auch noch in den nächsten Jahrzehnten am kulturellen Leben der Stadt Sinsheim aktiv zu beteiligen.
Der Liederkranz probt regelmäßig an Donnerstagen von 19:15 bis 20:45.
Aktuelle Infos und die ganze Geschichte findet man im Internet unter www.liederkranz-sinsheim.de
„Singe, wem Gesang gegeben,... Das ist Freude, das ist Leben"
(Ludwig Uhland).